Heilige Schriften

Ziel dieses Artikels ist eine Beleuchtung der Wertigkeit von Schriften in verschiedenen religiösen Traditionen. Der deutsche Religionswissenschaftler Udo Tworuschka sammelt in einer seiner Abhandlungen einige mögliche Definitionsebenen verschiedener Autoren seines Fachbereiches, welche uns dabei helfen werden ein grobes Verständnis davon zu erlangen, was denn überhaupt mit „heiliger Schrift“ gemeint ist (Tworuschka 2000, S588f). Dort finden wir die Ansicht dass “nur die zu einem Kanon zusammengefaßten Schriften mit religiöser Autorität” (Mensching 1937, S79) der Bezeichnung „Heiliger Schriften“ gerecht werden, die auch von Carsten Colpe (1988, S189) unterstützt wird. Laut Gerardus von der Leeuw wird durch den Prozess der Kanonisierung “die Macht des heiligen Wortes […] in dieses Buch gebannt”. Am strengsten finden wir dieses Phänomen seines Erachtens nach im Islam, im Juden- und im Christentum. Der Religionsphänomenologe sieht die Kanonisierung als Festlegung der “Herkunft” einer Schrift bzw. ihrer “Beschränkung” auf ein genaues Maß an Inhalt und dies wiederum als wesentlichen Schritt zur Qualität des heiligen Buches (1977, S498).

Der nun folgende Teil soll sich damit beschäftigen die Wertigkeit der Schriften denen diese besagte „heilige“ Qualität zukommt etwas näher und zwar möglichst durch die Augen verschiedener Traditionen zu betrachten.

Die Wertigkeit der heiligen Schriften im Christentum, den Hindu-Religionen und dem Daoismus

Die „heiligen Schriften“ dieser Traditionen vergleichend, kann festgestellt werden, dass das Christentum schon seit Mitte des 3. Jh. den am genauestens definierten Kanon besitzt, als das Neue Testament seine zum großen Teil finale Form bekam. Obwohl es verschiedenste Ansichten unter den christlichen Theologen gibt, welche Rolle das Alte Testament als Schrift des Christentums spielt (siehe Marcion, Luther oder Calvin1) so einigt sich die große Mehrheit der christlichen Theologie auf den kontinuierlichen Zusammenhang zwischen den beiden Schriften, wie dem 2. Vatikanischen Konzil zu entnehmen ist:

„The Church of Christ acknowledges that in God‘s plan of salvation the beginning of her faith and election is to be found in the patriarchs, Moses and the prophets. She professes that all Christ‘s faithful, who as men of faith are sons of Abraham (cf. Galatians 3: 7) are included in the same partiarch‘s call and that the salvation of the Church is mystically prefigured in the exodus of God‘s chosen people from the land of bondage“ (2. Vatikanisches Konzil, 1965).

Die Schriften des Christentums, also die Bücher des Alten und Neuen Testaments stellen eigentlich keinen Anspruch auf direkte göttliche Offenbarung. Die Offenbarung im Christentum ist nicht die Schrift an sich, sondern die Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Trotzdem ist das Christentum als eine Buchreligion (wie auch das Judentum und der Islam) anzusehen weil die Bibel von zentraler ritueller, als auch autoritärer Bedeutung ist. Die Theologin Eve-Marie Becker beschreibt dies in ihrem Handbuch der evangelischen Theologie „dass die christliche Religion primär keine Buchreligion ist. Sie bezieht sich hingegen auf frühchristliche Texte und Einzelschriften, die Zeugnis von der Gottes-Offenbarung in Christus, d.h. dem Christus-Ereignis, geben, selbst aber keine Offenbarungs-Texte, d.h. Texte mit Offenbarungsanspruch oder -qualität, sind.“ Dabei bilde lediglich die Johannes Offenbarung eine gewisse Ausnahme (Becker 2006, S129). Diesbezüglich finden wir selbst innerhalb der christlichen Gemeinschaft unterschiedliche Ansichten wie zB im Catechism of the Catholic Church aus dem Jahr 1994 zu entnehmen ist, welcher auf die Inspiration der Schriften durch den Heiligen Geist hinweist:

„God is the author of Sacred Scripture. The divine revealed realities, which are contained and presented in the text of Sacred Scripture, have been written down under the inspiration of the Holy Spirit. For Holy Mother Church, relying on the faith of the apostolic age, accepts as sacred and canonical the books of the Old and the New testaments, whole and entire, with all their parts, on the grounds that, written under the inspiration of the Holy Spirit, they have God as their author and have been handed on as such to the Church herself. God inspired the human authors of the sacred books.“

Bei den Hindu Religionen finden wir die grundlegenden Schriften betreffend (alle in Sanskrit verfasst) ein ähnliches Verständnis von Inspiration. Die vier Veden (Rig, Sama, Yajur, Athara) und die älteren Upanishaden, welche die sruti Schriften bilden, sind die Basis der indischen Schriften. Sie werden als „gehört“ oder „göttlich geoffenbart“ angesehen und als von den rishis, den frühen Weisen und Sehern empfangen. Komplementär finden wir dort die smriti Literatur (das Erinnerte, oder Überlieferte) welche die Epen (Mahabharata, Ramayana), Sutras (zB Manusmriti oder Yogasutras) und Puranas beinhaltet. Selbst Hindus sind sich nicht ganz einig darüber was geoffenbart ist, oder lediglich erinnert und weitergegeben (Knott 2009, S32-34).

Wohl am bekanntesten und wichtigsten für Hindus ist die Bhagavad Gita, welche einen Teil des Epos Mahabharata bildet. Um ihre Bedeutung innerhalb der indischen Religiosität und Spiritualität zu verdeutlichen möchte ich auf den bemerkenswerten Mystiker, Poet, Yogi und Philosoph Sri Aurobindo (1872-1950) hinweisen. Sein Verständnis der “heiligen Schriften” im Speziellen der Bhagavad Gita, welches er unter anderem in seinen “Essays on the Gita” ausführt, soll hier wiedergegeben werden:

Den grundlegend rechten Zugang zu “ancient Scripture, such as the Veda, Upanishad or Gita” fänden wir im Verständnis, dass es ohne jeden Zweifel eine ewige Wahrheit gibt, und im Lichte welcher alle anderen Wahrheiten ihren rechtmäßigen Platz finden. Deshalb, so begründet er nachvollziehbar, kann die ganze Wahrheit nie und nimmer in irgendeiner einzigen Philosophie, einer Schrift, oder von irgendeinem Propheten oder Avatar (verkörperte Göttlichkeit) zur Gänze beansprucht oder dargelegt werden.

Weil diese Wahrheit sich außerdem in einer gewissen Zeit und durch den Menschen dieser Zeit offenbart, müsste das Herangehen an eine Schrift stets Beachten dass man es mit zwei Ebenen zu tun hat, nämlich erstens mit der Äußerlichkeit „temporary, perishable, belonging to the ideas of the period and country in which it was produced“ und zweitens mit der Essenz „eternal and imperishable and applicable in all ages and countries“ (Aurobindo 1938, xv).

Ein ähnliches Herangehen an die Schriften beobachtet der Theologe Alister McGrath schon bei Erasmus von Rotterdam (1466-1536) der dahingehend zwischen „letter“ und „spirit“ unterscheidet (Erasmus 1503, S.33) und auch bei Huldrych Zwingli (1484-1531) welcher argumentiert, dass die Aufgabe des Bibelexegeten sei „the natural sense of Scripture“ aufzuzeigen (McGrath 2017, S118).

Ich schätze es bedarf keiner allzu großen Gelehrsamkeit um in manchen Fällen die eine Dimension von der anderen zu unterscheiden. Aber, aus dieser Unterscheidung heraus könnte sich viel eher eine komplementäre Qualität aller „Heiligen Schriften“, aller Traditionen, oder zumindest eine Einheit im Sinne der Freiheit von Widerspruch der essenziellen Botschaften der Schriften ergeben.

Ich denke, dass viele Menschen dies heutzutage ebenso sehen würden bzw. ein Anerkennen der Schriften als komplementär sehr begrüßen würden.

In seiner Interpretation der Bhagavad Gita empfiehlt Aurobindo deshalb:

„[W]hat we can do with profit is to seek in the Gita [oder in anderen Schriften] for the actual living truths it contains, […] to extract from it what can help us or the world at large and to put it in the most natural and vital form and expression we can find that will be suitable to the mentality and helpful to the spiritual needs of our present-day humanity. No doubt in this attempt we may mix a good deal of error born of our own individuality and of the ideas in which we live, as did greater men before us, but if we steep ourselves in the spirit of this great Scripture and, above all, if we have tried to live in that spirit, we may be sure of finding in it as much real truth as we are capable of receiving […] that is after all what Scriptures were written to give“ (Aurobindo 1938, xvi).

Sein Fokus ist also auf die lebendigen Wahrheiten der Schriften gelegt, welche von praktischem Wert sein müssen; und zwar sowohl für den Einzelnen, als auch für die Gesamtheit. Die Wahrheit der Schriften wirklich zu leben, angepasst an die gegebenen Voraussetzung der jeweiligen Zeit und Umstände, sei seines Erachtens nach sicher nicht leicht, aber notwendig wenn wir der Wahrheit der „heiligen Schriften“ gerecht werden wollen. Aurobindo statuiert ohne zu zögern, dass dies letztendlich das sei, was die Schriften zu geben hätten.

Auch der Theologe Johann Gottfried Herder (1744-1803) scheint in seinem, wenn auch anders anmutenden Verständnis, einen ähnlich praktischen, im Sinne von menschlichen, Zugang zu den Schriften zu finden:

„We must read the Bible in a human way, since it is a book wirtten by man for man; the language is human, it was written and preserved through human means, and the sense, in which one can understand it, the whole purpose, for which it may be used, is human.“

Was nun die essenziellen Botschaften oder die Wahrheit der Schriften betrifft, gehen die Meinungen in den verschiedenen Traditionen oft auseinander, ja sie scheinen sich durchaus im Unterschied der Auslegung dieser Wahrheit zu begründen.

Wie man aber trotzdem Einigung finden kann, ohne die eigene Tradition zu schwächen, darüber gibt uns bei genauerer Betrachtung das wichtigste daoistische Werk, das Daodejing (Tao-Te-King) Aufschluss.

Es ist eine Sammlung von Texten die ca. 450 – 310 v.u.Z. zusammengestellt wurden, und neben dem etwas weniger bekannten Zhuangzi eine der fundamentalen Schriften der Schule des Dao (Daojia) bildet (Littlejohn 2009, S7).

Diese Lehre oder Schule ist die älteste philosophisch-spirituelle Tradition Chinas und wird sogar als die Wurzel der Chinesischen Zivilisation angesehen (Ebd. S1). Den Daoismus als eine Religion oder Philosophie zu beschreiben gelingt nur bedingt. Ihn als eine lebendige Realität zu betrachten, die zur Befreiung und Erleuchtung und demnach über konzeptuelle Modi und Dogmen hinausführt, bringt uns näher zum eigentlichen Wesen des Dao (Ebd. S1-2).

So eröffnet das erste Kapitel des Daodejing, das Heilige Buch vom Weg (Dao) und von der Tugend (De) mit den mystischen Versen:

“Könnten wir weisen den Weg, es wäre kein ewiger Weg.

Könnten wir nennen den Namen, es wäre kein ewiger Name.”2

Diese zwei Verse bringen zum Ausdruck, dass die grundlegende Wahrheit (wohl auch der Schriften) unbeschreiblich und unsagbar ist. Was auch immer gesagt oder geschrieben wird wäre somit nicht absolute Wahrheit „a Truth one and eternal which we are seeking, from which all other truth finds its right place, explanation and relation to the scheme of knowledge“ (Aurobindo 1938, xv). Schriften wären in diesem Verständnis lediglich Wegweiser zur oder Ausschnitte der Wahrheit, um Gott, Krishna oder Dao jenseits von Begrifflichkeit und Unterschiedlichkeit zu erfahren.

Der Weg, Dao, ist Wirklichkeit, jenseits von Zeit und Raum, Form und Name, und entzieht sich konzeptueller Begrenzung, völlig immun gegen jedwede intellektuelle Analyse. Die Erkenntnis des Dao komme zu einem Meister „through a state of stillness and quietude empty of the machinations of language, reason, ideas and inferences“ (Littlejohn 2009, S59).

Dao kann sich allein durch Erfahrung „with numinal presence and an immediate awareness of reality“ (Ebd. S58-59) offenbaren und bleibt dem Menschen, welcher sich auf die Informationen der groben Sinneswahrnehmung und seinen Intellekt stützt verborgen.

Meister Zhuang beschreibt im gleichnamigen Zhuangzi die Begegnung von Konfuzius mit Meister Lao (Lao Tse), in welcher Lao Tse seine Erfahrung höherer Bewusstseinszustände folgendermaßen beschreibt:

“I was letting my mind wander in the beginning of things. […] In this world, the ten thousand things come together in One, and if you can find that One and become identical with it, then […] nothing whatever can confound you“ (aus dem Zhuangzi 21d, 225-6 , zitiert bei Littlejohn 2009, S59).

Lao Tse ist jener daoistische Meister, dem traditionell die Autorschaft des Daodejing zugesprochen wird. Dies begründet sich unter anderem auf Aussagen über Lao Tse im gerade eben erwähnten klassischen Werk Zhuangzi und wird zusätzlich durch Sima Qians (145-90 vuZ) Lao Tse Biographie in Records of the Historian gestützt, in welcher erzählt wird wie Lao Tse beim Verlassen von China gen Westen ein Werk aus 5000 Schriftzeichen über das Dao und das De einer Person namens Yin Xi hinterließ (Ebd. S9).

Daoisms ist die Sammlung der Lehren, die den Dao-Meistern seit jüngster chinesischer Geschichte zugeordnet werden. Diese Meister “invested their lives and energies in developing techniques for unifying and harmonizing their self-consciousness with dao, and thereby undergoing awe-inspiring biospiritual transformations.“ Daoismus kann also als die Gesamtheit der Traditionslinien dieser auf dem Austausch von Meister und Schüler basierenden transformierenden Lehre des Dao verstanden werden (Ebd. S2).

Abschließende Reflexion

Nach dieser kurzen Ausführung wird deutlich, dass das Verständnis und die Wertigkeit von Schriften in den einzelnen Traditionen sehr vielfältig sein kann. Man kann aber durch genaueres Betrachten feststellen, dass innerhalb einer Tradition den Schriften (oder zumindest einem Anteil der Schriften) gleiche Bedeutung und Wertigkeit zugemessen wird. Man könnte sagen, dass es unter anderem dieser gemeinsame Nenner ist, der die einzelnen Gruppierungen und Gemeinschaften unter dem Deckmantel einer Tradition vereint. Es ist jedoch auffallend, dass es selbst innerhalb der Traditionen Diskussionen und Reflexionen darüber gibt, was in einer „heiligen Schrift“ tatsächlich der Qualität von Offenbarung, Inspiration und zeitloser, währender Gültigkeit entspricht. Daraus lässt sich weiters erkennen, dass selbst das grundlegende Verständnis der Schriften und die Bedeutung die wir daraus für unser Menschenleben ziehen (ob innerhalb der Traditionen oder Traditionen übergreifend), wahrscheinlich ebenfalls einem Prozess unterworfen ist, der kein absolutes, oder endgültiges Ziel erreichen kann.

Wenn es also stimmt, dass die Bedeutung die eine Schrift hat, oder das Verständnis das aus einer Schrift gewonnen werden kann, einen relativen, sich verändernden, sich erneuernden Charakter aufweist, dann würde das heißen, dass sich die Autorität einer Schrift um auch morgen noch als „heilig“ zu gelten, stets im Erleben und Erfahren des Menschen unter Beweis stellen muss, gleichgültig ob Menschen Hand oder Gottes Wort.

Denn Wahrheit muss ihrem Namen nach währen.

Fußnoten

1 Marcion sieht das Alte Testament als eine Schrift die nichts mit dem Christentum zu tun hat. Luther besteht auf die Opposition von Gesetz (AT) und Gnade (NT). Calvin sieht im Neuen Testament eine Fortsetzung des Alten und erkennt im selben Moment die Unterschiedlichkeit beider an (Vgl. McGrath, S.110).

2 Übersetzung durch Günther Debon

Literatur

Aurobindo. Bhagavad Gita and Its Message, Lotus Press 1995, (Originalausgabe 1938)

Becker, Eve-Marie (Hrsg.), Handbuch Evangelische Theologie. A. Francke Verlag, Tübingen 2006

Catechism of the Catholic Church (Collegeville, MN: The Liturgical Press, 1994), §§101-108.

Colpe, C. Heilige Schriften. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 14.

Stuttgart 1987. S 184-223.

Debon G. [Übersetzer] Tao-Te-King, Das heilige Buch vom Weg und von der Tugend, Reclam 1979

Erasmus v. Rotterdam, Handbook of the Christian Soldier, 1503

Herder, Gottfried Johann; Briefe, das Studium der Theologie betreffend; in Werke, ed. Martin Bollacher et. al., Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1993, Vol. 9, Teil 1, S.145

Knott, K. Der Hinduismus, Eine kleine Einführung, Reclam 2009

Mensching G. Das Heilige Wort. Eine religions-phänomenologische Untersuchung. Bonn 1937

Tworuschka, U. (Hg.), Heilige Schriften. Eine Einführung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt 2000. S. 1-28: Ders., Vom Umgang mit Heiligen Schriften.

Leeuw, G. van der, Phänomenologie der Religion. Tübingen. [= unver. Nachdruck der 2. Aufl. 1956] 41977

Littlejohn, R. Daoism, An Introduction. I.B. Tauris & Co Ltd, 2009

McGrath, Alister E., Introduction to Christian Theology, John Wiley & Sons Ltd. 2017

Second Vatican Council, Nostra aetate, October 28, 1965 §4; in Denzinger, Enchiridion symbolorum, 39. Edition, Freiburg, Herder, 2001, p. 1248

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